Menschen bauen Mauern

Menschen bauen Mauern.
Dicke, feste Mauern. Stabil und unbesiegbar, so glauben sie.
Wen wollen sie ausschliessen oder vielleicht einschliessen? Die Menschen fühlen sich sicherer und geschützt hinter ihren hohen, dicken Mauern. Im Schatten der Mauern gehen sie ihren Geschäften nach. Im Schatten der Mauern schlafen sie ruhig. Der Feind muss draussen bleiben. Die Sonne auch.
Die Gedanken lassen sich nicht einschliessen von Mauern. Sie fliegen durch die Luft und durch die Köpfe. Sie bewegen sich, auch wenn niemand es sieht. Sie sind auf der Reise in die Nachbarschaft und in die weite Welt und in das Land der Fantasie.

Zwanzig Jahre fehlt sie jetzt. Seit zwanzig Jahren ist sie weg. Die Mauer, die die Menschen trennte.
Das Brandenburger Tor in Berlin strahlt. Alle Welt schaut auf Berlin. Bunt bemalte, grosse Dominosteine stehen dort, und die Mauer fällt erneut. Offizielle Reden schwingen durch die Berliner Luft, ein grosses Feuerwerk erleuchtet den Berliner Himmel. Menschen, viele Menschen sind da. Sie feiern ein historisches Ereignis. Die Welt ist dabei, jeder, der Anteil daran hatte, jeder, der sich daran erinnert, und jeder, der gern dabei gewesen wäre.
Freiheit und Hoffnung sind in der Welt. Ost und West ist kein Gegensatz mehr, eine Welle der Freude fliesst rund um den Erdball und schliesst den Kreis.

Menschen bauen noch immer Mauern.

Wieder sind zehn Jahre vergangen. Nun wird das Dreissigjährige Jubiläum gefeiert. Dreissig Jahre ist diese Mauer weg. Die Steine wurden in alle Himmelsrichtungen der Welt getragen. Sie sitzen irgendwo in einem Haus, als Andenken, ein Mitbringsel aus Berlin. Eine Erinnerung an etwas Dickes, Hohes, Stabiles, das nicht mehr ist. Eine Mahnung, dass auch der schützende Schatten einer Mauer nicht ewig hält.
Die Menschen feiern, die Menschen reden, die Menschen fragen nicht, was diese Mauer im tatsächlichen Leben bedeutete.

Die Menschen bauen neue Mauern.