Nach den Anschlägen in New York

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York

„Patriotismus brach aus. Überall wurden amerikanische Flaggen aufgehängt. Aus Fenstern, an Geschäften, an Autos, in Taxis wehten sie. Beim Hereinkommen durch die Glastüren der Business School sah ich die riesige amerikanische Flagge. Sie hing in der Mitte über dem Durchgang in die Lobby von Uris Hall, dort wo die Treppen rechts und links sich trafen, die in den nächsten Stock hochführten. Jeder musste unter der amerikanischen Flagge hindurchgehen, um in die Lobby zu gelangen. Der Broadway war geschmückt mit paarweisen Flaggen, an jedem zweiten Baum hing ein solches Paar. Ich hatte noch nie so viele amerikanische Flaggen auf so engem Raum gesehen. Es war, als würden sie laut rufen: Wir sind alle Amerikaner. Wir stehen zusammen gegen den Feind von draussen.
Das Land war in einem Krieg. Das Militär begann, die Reservetruppen einzuziehen.

Ich traf John aus meinem Cluster in der Lobby. Er erzählte mir: „Ich war am Dienstag um neun Uhr morgens in der Subway direkt unter dem World Trade Center. Zwei Leute stiegen ein und sagten: „Wir sind angegriffen worden.“ Und die Subway fuhr weiter.“
Er hatte Glück gehabt.
Dann traf ich Alan. Er legte den Arm um mich: „Bist du okay?“
„Ja, es geht mir gut. Und du?“
„Ich muss nach Hause, meine Frau flippt aus. Bei uns gegenüber ist die pakistanische Botschaft und zwei Block weiter die russische. Sie hat Angst, sie ist völlig fertig, ich muss sie beruhigen gehen.“
Kurz darauf traf ich Harry. „Wie geht es dir?“ fragte er mich. „Ich bin in Ordnung. Und dir?“ – „Ich bin o.k.“, sagte er, „aber ich kannte Leute, die in den Türmen waren am Dienstag. Sie haben es nicht geschafft. Sie sind tot.“ Er wirkte sehr traurig.
Mir fiel nichts ein, um ihm ein wenig Trost zu geben. Ich konnte ihn nur aus dem Abstand ansehen. Aus der Nähe, aus persönlicher Nähe waren die Anschläge viel schlimmer als im Fernsehen. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Ich fühlte mich genauso hilflos wie vor den Bildern im Fernsehen.“

aus dem Roman „Schatten im Apfel

© Tatin Giannaro