Aus Tatin Giannaros Roman „Schatten im Apfel“:
„Ich dachte an die Unabhängigkeit. Sie war ein kostbares Gut. Die Menschen kämpften immer dafür, durch die Jahrhunderte. Was bedeutete Unabhängigkeit für uns heute? Was bedeutete es für mich? Ich wollte unabhängig sein von Konventionen. Ich wollte frei entscheiden, was ich tat oder was nicht. Ich wollte entscheiden, was ich für richtig hielt, ohne mir von anderen vorschreiben zu lassen, was ich denken sollte. Ich wusste selber, was richtig war, was angemessen war, was fair und gerecht war. Unabhängigkeit bedeutete für mich, niemandem gehorchen zu müssen, der von mir etwas anderes verlangte.
Oft war der Mensch gefangen. Er war gefangen in seiner Umwelt, in der Gesellschaft, in der er lebte. Er war gefangen in seinen eigenen Gedanken und Vorstellungen, die er sich von der Welt da draussen, von den anderen Menschen und von ihren Gedanken machte.
Wie hoch waren die eigenen Hürden? Wer die äusseren Hürden überwand, baute oft selber neue Hürden und Schranken um sich herum auf. Als suchte er die Geborgenheit der Hürden, in deren Schatten er ruhig leben konnte. Sie beengten ihn vielleicht, aber sie liessen auch den bohrenden, neugierigen Blick der anderen Menschen nicht herein. Sie gaben Schutz. Erst wenn der Schutz zum unerträglichen Zwang wurde, war der Mensch bereit, die engen Wände zu überwinden und sich hinaus in die Welt zu begeben.“
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Wie unabhängig sind wir Menschen wirklich? Wir glauben frei und unabhängig zu sein, weil wir keine Regeln sehen, deren Überschreiten harte, schmerzhafte Strafen nach sich ziehen. In Deutschland wird niemand ins Gefängnis geworfen, weil er oder sie etwa Kleidung trägt, die nicht gefällt. Davon sind wir überzeugt.
Kein Diktator wird uns hier wegen Majestätsbeleidigung bestrafen. Daran glauben wir.
Wir glauben, dass wir tun können, was wir wollen, was wir für uns entscheiden. Das alles nehmen wir als selbstverständlich hin, ohne uns Gedanken darum zu machen. Warum auch? Es läuft doch.
Erst wenn wir merken, dass wir zu etwas gezwungen werden, das wir nicht wollen, denken wir daran, wie wertvoll die Unabhängigkeit ist. Erst wenn wir sie nicht haben, vermissen wir sie – manchmal. Denn wie unabhängig wollen wir wirklich sein?